Der Bauernaufstand Chlopkos 1603

I. Textteil   ♦   II. Zeittabelle   ♦   III. Zeitgenossen   ♦   IV. Begriffe   ♦   V. Anhang    


Im weiten Rußland des Jahres 1603 war noch keine Legende vom falschen Zaren verbreitet, sie stand unmittelbar bevor aber andere Geschehnisse sollten erst Geschichte machen. In Zentralrußland herrschte seit zwei Jahren eine unglaubliche Hungersnot. Das eine Revolte endlich losbrach, wird von vielen Historikern als Folge der Missernten und Wetterkapriolen angesehen. An diesen Tatsachen sind auch keine Zweifel zu hegen, als alleinige Ursachen für den Aufstand des Chlopko kann man sie nicht gelten lassen.

Chlopko, auch: Chlopka, gebrauchten vermutlich die Leibeigenen unter den Aufständischen als Kose-Namen für ihren Anführer. Chlopka könnte mit Schlag oder kräftiger Handschlag eventuell übersetzt werden. Über seine Person ist sonst nichts bekannt. Chlopkos Haufen bestanden aus Bauern, entflohenen Leibeigenen, Cholopen, Dienstknechten und Deserteuren. Nach ihrer Niederlage konnten viele der Aufständischen an die Südgrenzen fliehen. Wer in Gefangenschaft geriet, wurde hingerichtet und so vermutlich auch Chlopko selbst. Alle weitere Nachricht über ihn ging verloren.

Der Name könnte aber auch eine verkürzte umgangssprachliche Version von Cholope sein, nach der Herkunft des Anführers. Ein Cholope war eine unfreie Person, dem Sklaven ähnelnd. Dieser Stand existierte etwa seit 900 u.Z. Als besitzloser Knecht für alle Dienste zuständig, war der Cholope vorwiegend im Ackerbau tätig. Cholopen beteiligten sich an vielen sozialen Erhebungen. Bolotnikow, der später selbst einen Aufstand anführte, soll ebenfalls ein Cholope gewesen sein.

In den 70er und 80er Jahren des 16. Jahrhunderts herrschte im Zarenreich eine wirtschaftliche Krise, die sich in Verödung ganzer Landstriche und im Rückgang der Bevölkerungszahl offenbarte. Der Feldzug gegen Kasan und der Livländische Krieg hatten dazu beigetragen ebenso wie die feindlichen Einfälle der Krimtataren in südliche und zentrale Gebiete Russlands. Deren schlimmsten Auswirkungen waren aber um die Jahrhundertwende noch nicht beseitigt. Die Herrschenden des Reiches verstrickten sich in eigene Machtkämpfe. Vorerst konnte der Kleinadlige Boris Godunow diese Auseinandersetzungen für sich entscheiden, aber die Moskauer Bojaren bezichtigten ihn weiterhin des Mordes an dem Sohn Iwans des Schrecklichen. Die Landadligen waren anderweitig beschäftigt. Sie handelten mit bäuerlichen Arbeitskräften und verschoben sie wechselseitig an verschiedene Güter. Immer mehr Cholopen reagierten auf die sich verschärfende Feudalabhängigkeit mit Ausbruchversuchen. 1597 erließ Boris Godunow ein Gesetz zur Bauernverfolgung. Nach flüchtigen Bauern, die seit dem Jahr 1593 geflohen waren, hatte eine Fahndung zu erfolgen. Dieses Gesetz machte selbst freie Menschen, die bei ihrem Herrn lebten, nachträglich feudal abhängig. Bereits in den achtziger und neunziger Jahren wurden "Grundbücher" eingeführt, die die "Rechte" des Grundherren über die auf seinem Besitz lebenden Bauernfamilien fixierten und nun als Grundlage für die Verfolgungsaktionen adliger Privatpolizei-Einheiten dienten. Hungersnöte, die 1601 bis 1603 in ganz Rußland grassierten, bildeten die Anlässe für die spontanen Aufruhr-Aktionen, die sich schnell ausbreiteten. Die Besitzungen der Adligen wurden angegriffen und geplündert. Missernten und Getreidespekulationen der Grundherren und der Kaufleute hatten die Lage unerträglich verschärft, die Menschen verhungerten in aller Öffentlichkeit, auch in der Hauptstadt. In Moskau sollen täglich bis zu 300 Tote von den Straßen gesammelt worden sein. Ganze Dörfer wurden von den Bauern verlassen. Zuweilen vertrieben die Gutsherren aus Mangel an Nahrungsmitteln selbst ihre Cholopen. Dabei erhielten die Heimatlosen keine Freilassungspapiere und galten für andere als flüchtig. Völlig mittellos und ohne Perspektive auf eine Arbeit, um sich mit Lebensmittel versorgen zu können, blieb diesen Menschen nichts anderes als Raub. Die sich daher sammelnden Banden überfielen mit Lebensmitteln beladene Handelszüge der reichen Kaufleute. Chlopko muss es verstanden haben, viele dieser ungeordneten Haufen zu sammeln und zum Kampf zu motivieren. Die Bauern rechneten mit ihren Herren ab und setzten deren Schlösser und Häuser in Brand. Schließlich gelang es den Rebellen, sogar einige Strafabteilungen Boris Godunows in die Flucht zu jagen. Zehntausende Revoltierer eroberten Klöster, Adelssitze, Kirchengüter und einige Krondomänen des Zaren. Die Rebellen hielten sich nicht für Banditen, sie fühlten sich eher mit Recht als Opfer menschenunwürdiger Verhältnisse, aus denen sie keinen anderen Ausweg fanden. Ermutigt von ihren Erfolgen zogen ihre Abteilungen in Richtung Hauptstadt. Im Sommer bedrohten die bewaffneten Haufen der Aufständischen Moskau. Ein adliges Verteidigungsheer konnte von den Revoltierenden noch geschlagen werden wobei sie den Kommandeur der fürstlichen Truppen töteten. Aber den nachrückenden überlegenen Zarenregimentern gelang die Unterdrückung des Aufstandes. Viele der revoltierenden Bauern und Cholopen flüchteten darauf hin in die Grenzregionen Rußlands. Wer in Gefangenschaft geriet, wurde hingerichtet. Es ist zu vermuten, dass dabei auch der Anführer Chlopko umkam. Einem Teil der Überlebenden gelang es schließlich, sich in die Nordukraine abzusetzen. Die folgenden Massenhinrichtungen trafen viele unschuldige Landbewohner, aber im April 1605 unterbrach der plötzliche Tod des Usurpators Godunow vorerst die Rache-Exzesse der Herrschenden.

Zuweilen übersehen moderne Historiker gern in historischen Abläufen die ersten Anzeichen einer Entwicklung zur blutigen Revolte. Tragischer für die Zeitgenossen wirkten gleichartig ignorierende Trugschlüsse, die das Handeln der damaligen Oberschicht bestimmten. Bereits in den Jahren 1594 und 1595 kam es auf den Ländereien des Klosters Jossifo-Wolokolamski zu Unruhen. Die Bauern verweigerten den Klosterbrüdern den Gehorsam, die daraufhin Bojaren um Militärhilfe baten. Im Belosersker Gebiet töteten Landleute Angehörige einer Klosterverwaltung. In diesem Streit ging es um freien Zugang zu Wald und Wiesen. Zu weitere Auseinandersetzungen dieser Art kam es auch im Norden des Landes. Und dennoch wurde 1597 das Gesetz zur Verfolgung flüchtiger Bauern erlassen. Die Not der hungernden Massen in den darauf folgenden Jahren musste sich schließlich Bahn brechen in den Revolten. Es gibt soziale Gesetzmäßigkeiten, die objektiv wirken und sich genau dann scheinbar spontan durchsetzen, wenn sie trotz offensichtlicher Anzeichen durch eine unfähige Oberschicht überheblich ignoriert werden.

Noch aber hatte es anscheinend nicht genug Unheil gegeben. Die sich gegenseitig bekämpfenden Fraktionen der Oberschicht fühlten sich nach der Niederlage Chlopkos vielleicht zu sicher. Schon am 7. Januar 1606 verschärfte man die Bestimmungen des Gesetzes von 1597. Die Lage für die Bauern verschlimmert sich noch einmal. Somit brach im Juli des gleichen Jahres der große Aufstand unter Iwan Issajewitsch Bolotnikow in aller Wucht los.

Die Massenerhebungen, die 1603 im westlichen und südlichen Teilen Rußlands ausbrachen, kann man heute durchaus als historisches Vorspiel zum Bauernkrieg unter → Bolotnikow betrachten.





II. Zeittafel

  Jahr
Ereignisse
1581 Weil viele Bauern von den ruinierten Wirtschaften fliehen, wird das Gesetz über die "verbotenen Jahre" erlassen: das besagt, das Bauern für diese Jahre ihren Herren nicht wechseln dürfen!
In den achtzigen und neunziger Jahren werden "Grundbücher" eingeführt, die die "Rechte" des Grundherren über die auf seinem Besitz lebenden Bauern fixieren.
1594 und 1595 Bauernrevolten auf den Gütern des Jossif-Wolokolamski-Kloster
1597 Boris Godunow erläßt Gesetz zur Bauernverfolgung: nach flüchtigen Bauern, die nach dem Jahr 1592 geflohen waren, hat die Fahndung zu erfolgen! Dieses Gesetz machte auch freie Menschen, die bei ihrem Herrn lebten, ohne das der vorher ein Recht auf sie besaß, feudal abhängig!
1601 bis 1603 Mißernten und Hungersnot in Rußland
Getreidespekulationen der Grundherren und der Kaufleute verschärfen die katastrophale Situation. Menschen verhungern in aller Öffentlichkeit, auch in der Haupstadt.
Ganze Dörfer werden von den Bauern verlassen.
1603 Zentralrußland wird von einem Bauernaufstand erfaßt: der Aufstand Chlopkos.
Der Aufstand war direkte Folge der Hungersnot. Die Bauern rechnen mit ihren Herren ab und schlagen die Strafabteilungen Boris Godunows in die Flucht! Zehntausende Revoltierer erobern Klöster, Adelssitze, Kirchengüter und Krondomänen des Zaren. Die Aufständischen ziehen in Richtung Hauptstadt, werden aber in der Nähe von Moskau geschlagen. Ein Teil der Überlebenden flieht in die Nordukraine, in der später der Aufstand Bolotnikows ausbrechen wird.
Oktober 1604 Der Falsche Dimitri I. beginnt mit seinen militärischen Operationen in der Ukraine und bewegt sich auf Moskau zu.
April 1605 Plötzlicher Tod des Bojarenzaren Boris Godunow.
20.Juni 1605 Der Falsche Dimitri I. zieht an der Spitze eines polnischen Heeres in Moskau ein.
In den kämpferischen Wirren in der Stadt kommen alle Godunows um's Leben.
21.Juli 1605 Der Falsche Dimitri wird zum Zaren gekrönt als Grigori Otrepjew Dmitri I.
Die Bojaren, die am Sturz der Godunows interessiert waren, beenden ihre Unterstützung für Dimitri und schwenken zur Gegenseite, als der neue Zar kleine und mittlere Dworjanen mit Land belohnt.
7.Januar 1606 Ein Gesetz verschärft die Bestimmungen des Gesetzes von 1597. Die Lage für die Bauern verschlimmert sich!
1.Februar 1606 Ein Gesetz dehnt die Frist der Verfolgung entflohener Bauern auf die Zunkunft (für die Dauer von 5 Jahren) aus!
Damit besteht für die Bauernschaft praktisch keine Rechtmäßigkeit mehr. Diese Leibeigenschaftsgetzgebung wird tragische Folgen für Jahrhunderte in Rußland haben!
1606 Im Interesse der Dworjanen (kleinere und mittlere Grundbesitzer) entzieht der neue Zar den Klöstern Teile ihrer Ländereien und belegt die Kirche mit hohen Geldabgaben. Damit schwenken die Priester ebenfalls auf die Seite seiner Gegner.
2.Mai 1606 Maryna Mniszek, die künftige Zarenbraut trifft mit 2000 bewaffneten Adligen in Moskau ein.
8.Mai 1606 Hochzeit des Zarenpaares. Die Feierlichkeiten arten aus in Plünderungen und Übergriffen gegen die Moskauer Bevölkerung.
17.Mai 1606 Bei einem Aufstand in der Hauptstadt wird der Falsche Dimitri I. getötet.
19.Mai 1606 Der Fürst Wassili Iwanowitsch Schuiski wird von Bojaren zum Zaren ausgerufen.
1.Juni 1606 Schuiski wird zum Zaren gekrönt.
In Moskau verbreiten sich Gerüchte über eine angebliche Rettung des Falschen Dimitri I.
Juni / Juli 1606 Aufstände in Astrachan und in der südwestlichen Ukraine. Ein sogenannter "Zarewitsch" Peter, der sich als Sohn des Zaren Fjodor ausgab, zieht gegen die Truppen Schuiskis.
Juli 1606

Kartenmaterial
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Beginn des Bauernaufstandes in der Sewersker Ukraine unter Bolotnikow.
Bauern in der bereits von Godunow zerstörten Gegend erheben sich gegen Schuiski. Mit den Leibeigenen kämpfen Kosaken, Possadbewohner, Strelitzen der Grenzstädte. Der russischen Bauernschaft schlossen sich die unteren Volksschichten der aus vielen Nationalitäten bestehenden Bevölkerung des mittleren Wolgagebietes an: der Mordwinen, der Tataren, der Mari und der Tschuwaschen.


III. Namensverzeichnis

Chlopko (auch: Chlopka - vermutlich als Kose-Name von den Leibeigenen so genannt). Über den Anführer des Bauernaufstandes von 1603 ist nur sehr wenig bekannt. Chlopkos Haufen bestanden aus Bauern, Leibeigenen und Cholopen. Nach ihrer Niederlage konnten viele der Aufständischen an die Südgrenzen fliehen. Wer in Gefangenschaft geriet, wurde hingerichtet, so vermutlich auch Chlopko selbst. Alle Nachricht über ihn ging verloren.
(Chlopka könnte mit Schlag, kräftiger Handschlag eventl. übersetzt werden.)
Boris Godunow (1552-13.4.1605), Zar ab 1598, setzte sich in Intrigenkämpfen gegen die Moskauer Bojaren durch. Ihm wird der ungeklärte Tod des jüngsten Sohnes Iwan IV. (1591) angelastet. Versuchte die Massenflucht der Bauern per drakonischer Gesetzgebung zu verhindern. Militärische Interventionen Polens und Schwedens, Machtkämpfe mit dem Hochadel und Massenhungersnot sowie Bauernkriege sind mit seiner Amtszeit verknüpft, als er plötzlich und unerwartet 1605 verstarb.
Jacques Margerets Kapitän der Leibwache Boris Godunows
und später des Pseudo-Dimitrij I.







IV. Begriffe

Cholope Ein Cholope war eine unfreie Person, dem Sklaven ähnelnd. Dieser Stand existierte etwa seit 900 u.Z. Als besitzloser Knecht für alle Dienste zuständig, vorwiegend im Ackerbau tätig. Cholopen beteiligten sich an vielen sozialen Erhebungen, besonders bekannt vom Aufstand 1603 und vom Bolotnikow-Aufstand.







V. Links, Literatur, Quellen, Hinweise

- Günther Stöckl, Russische Geschichte, Stuttgart 1990
- Hrg. Heinz-Dietrich Löwe, Von der Zeit der Wirren bis zur grünen Revolution, Forschungen zur Europäischen Geschichte, Osteuropainstitut der FU Berlin Bd. 65, Wiesbaden 2006
- Kirill V. Ĉistov, Der gute Zar und das ferne Land - Russische sozial-utopische Volkslegenden, New York München Berlin 1998 (Moskau 1967) Hrg. Dagmar Burkhard
- J.M. Shukow, M.M. Smirin, Weltgeschichte Bd. 4, Berlin 1964


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Notizen russische Bauernkriege / beg. 21.Februar 2009 / Stand: 30.11.2016 / Hans Holger Lorenz / St III - WB-To