Demagogenverfolgungen

1819   bis   1848



Die Unterdrückungsmaßnahmen, die unter dem Namen Demagogenverfolgungen unrühmlich in die deutsche Geschichte eingegangen sind, begannen offiziell 1819 und richteten sich vorrangig gegen die Vertreter der bürgerlich-patriotischen antifeudalen Opposition. Dabei wurde der Begriff Demagoge (= Volksverführer) benutzt, um unliebsame Personen zu diffamieren und den Polizei-Aktionen der Regierungen einen erklärbaren Charakter zu verleihen.


Die Demagogenverfolgung setzte im Frühjahr 1819 ein. Sie erfolgte in mehreren Wellen und erlebte einen Höhepunkt nach den Karlsbader Beschlüssen. Die von den deutschen und österreichischen Regierungen beschlossenen Maßnahmen leitete eine Mainzer Zentraluntersuchungskommission. Deren Tätigkeit sollte angeblich nur zeitlich begrenzt sein. Aber schon fünf Jahre später am 16. August 1824, man beachte die Parallelität der Zeit mit den "Regulierungsedikten", wurde die Tätigkeit dieser Verfolgungsbehörde auf unbestimmte Zeit verlängert. Ihre Mitarbeiter stellten die Regierungen von Baden, Bayern, Hannover, Hessen-Darmstadt, Nassau, Österreich und Preußen(1). Sie war dem Bundestag verantwortlich und besaß das Recht, Haftbefehle zu erlassen, Gerichtsverfahren anzuordnen und über alle polizeilichen Untersuchungen in Deutschland informiert zu werden. So verschieden sich deutsche und österreichische Staaten gaben, in der politischen Verfolgung Andersdenkender blieben sie unerhört einheitlich.
Da die politischen Zwangsmaßnahmen die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Kleinstaaterei naturgemäß nicht lösen konnten, "erforderten" die Erschütterungen der Volkserhebungen 1830/31 eine weitere Verschärfung der Repressionen, die Zweite Demagogenverfolgung, in Wirklichkeit nur eine der vielen tatsächlichen Verhaftungswellen. Diese zweite Welle richtete sich besonders gegen die zahlreichen Burschenschafter, vornehmlich den in der Deutschen Burschenschaft organisierten Studenten und gegen Schriftsteller und Publizisten. Vorrangig die junge bürgerliche Oppositionsbewegung sollte mundtot gemacht werden.
So erfand die Mainzer Zentraluntersuchungskommission Behauptungen von Verschwörungen gegen den Deutschen Bund. Sie bezeichnete in diesem Zusammenhang beispielsweise den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, den Reichsfreiherrn Karl v. Stein und sogar den preußischen Staatskanzler K.A. Fürst v. Hardenberg als deren Urheber und Mithelfer.
In fast allen deutschen Staaten fanden Verhaftungen statt, die studentischen Verbindungen wurden aufgelöst, die Schulen erhielten politische Überwachung und das Denunziantenwesen genoß staatliche Förderung. Es verbreitete sich ein Klima gegenseitiger Unsicherheit. Demokratische Betätigung wurde mit demagogischer Umtriebelei gleichgesetzt.

Am unerbittlichsten ging dabei Preußen vor, wo der König am 4.Mai 1819 der Polizei Sondervollmachten erteilte. Im Juli 1819 wurde u.a. Friedrich Ludwig Jahn in Berlin verhaftet, Ernst Moritz Arndt und weitere Professoren enthob man ihrer Ämter und leitete Gerichtsverfahren ein.
Ende 1823 setzte im Zusammenhang mit der Aufdeckung der geheimen revolutionären Studentenorganisation Jünglingsbund eine weitere Verfolgungswelle in Deutschland ein, die u.a. in Preußen mit der Verurteilung von 28 Studenten zu hohen Freiheitsstrafen endete (1826).


Die Demagogenverfolgungen hatten tatsächlich eine zeitweise Lähmung der Opposition zur Folge. Indem öffentliches Leben unmöglich gemacht wurde, bildeten sich infolge der Repressivmaßnahmen auch verschiedenste extreme Richtungen der oppositionellen Bewegungen, u.a. ultrarevolutionärer Aktivisten oder Nationalisten. Die Mehrheit des Bürgertums jedoch zog sich in Resignation zurück und so entstand das historische Bild der gemütlichen Biedermeierzeit, das sich von der Realität allerdings sehr weit entfernte, wie die immer wieder ausbrechenden Hungerrevolten und Volkserhebungen zeigen sollten! Diese Revolten (z.B. 1830 in Sachsen, Braunschweig, Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt und 1831 Hannover) beweisen uns noch heute, das den durch "Reformen" land- und besitzlos gewordenen Bauern der "Rückzug in das Private" nicht möglich war. Einen Ausweg für die Besitzlosen in industrielle Produktionsstätten gab es (entgegen nachträglicher Historikerdarstellungen) tatsächlich noch nicht. Für mindestens eine Generation bildete die massenhafte Verarmung eine existentielle Bedrohung und Realität, vor der sich Tausende in aufeinanderfolgenden Ausreisewellen in Sicherheit bringen wollten. Ein wesentliches Resultat der Verfolgungen blieb jedoch die ungestörte Umverteilung des Bodenbesitzes.
Die Karlsbader Methoden der staatlichen Jagd auf republikanisch gesinnte Demokraten schienen sich auch europaweit zu bewähren. Schließlich durfte man sich seither in die Innenpolitik anderer Staaten einmischen - "intervenieren" - wie z.B. Österreich in Italien oder Frankreich in Spanien.(2) Die Heilige Allianz der rückschrittlichsten Kräfte Europas glaubte, das alles beim Alten bleiben würde, brächte man nur die demokratischen Stimmen zum Schweigen, sie hielt daran fest bis 1848...





Literatur    Quellen    Links
(1) Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands
und der deutschen Arbeiterbewegung
Band 2. L-Z
Dietz Verlag Berlin 1970
S.58

(2) Heinz Rieder, Die Völker läuten Sturm - Die europäische Revolution 1848/49
Casimir Katz Verlag
Gernsbach 1997
S. 20


Moeller, Heckel, Vierhaus, v.Aretin
Deutsche Geschichte Bd.2
Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen 1985
S.654 ff.


Link zum Begriff:
Demagogenverfolgung
in Preußenchronik

Link zu August Wirth August Wirth




weitere Notizen


Notizen zum Hambacher Fest am 27.Mai 1832

(Entwurf)


Auswirkungen der Reformen zur Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft in Deutschland im 19.Jahrhundert
Hungerrevolten und die Herrlichkeit der Biedermeierzeit


Die Auseinandersetzungen während der Privatisierung der französischen Gemeindegüter
Frankreich
1789 bis 1820
(Entwurf)


Die Bauernrevolte von Nassau 1848
Forderungen nach Abschaffung mancher drückenden Abgaben, als:
der Binnenzölle, der Schifffahrtsabgaben, Zehnten, Chausseegelder...



Über den Abgeordneten Wilhelm Zimmermann, genannt Bauernkriegs-Zimmermann
und
Notizen zur Entwicklung der historischen Darstellung des Grossen Deutschen Bauernkrieges
(Skizze)






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Notizen zur Demagogenverfolgung 1819 bis 1848  •  Hans Holger Lorenz  •  25. Mai 2011  •  WB-To